Der "ziehende Schnitt" - eine geometrische Analyse

Hier werden Holzprojekte diskutiert, die vorwiegend mit Handwerkzeugen und nicht mit Maschinen realisiert werden. Hier ist auch ein Platz für traditionelle Oberflächenbehandlung von Holz. Ebenso geht es hier um klassische Handwerkzeuge zur Holzbearbeiteng, deren Bedeutung, Pflege und Gebrauch.
Carsten Griewatsch
Beiträge: 54
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Der "ziehende Schnitt" - eine geometrische Analyse

Beitrag von Carsten Griewatsch »


Moin,

eigentlich ist das ganze ja nicht soo schwierig, wenn man sich einfach mal nur die zugrunde liegende Mechanik anschaut. Problematisch wird es nur dadurch, daß der "ziehende Schnitt" nirgends sauber definiert wird, und dadurch Spekulationen Tür und Tor geöffnet werden.
Ich persönlich verbinde mit dem Begriff immer eine schneidende Bewegung einer Schneide, also eine Bewegung parallel zur Schneidenkante,
mikroskopisch sicherlich auch irgenwie sägend. Ganz im Gegensatz zu einem Keil, der einfach nur ins Holz gedrückt wird, oder wenn
das Hobeleisen zu weit rausschaut und ins Holz hackt bei einer "normalen" geraden Führung des Hobels.

Ein Handhobel ist ein Werkzeug, das sich in einer Ebene bewegt, diese wird durch die Hobelsohle definiert.

Ob sich der Hobel nun auf der Seite liegend in einer Stoßlade befindet oder aber handgeführt auf einem Brett, ändert daran nichts.

Wenn wir uns nun einfach mal auf sinnvolle geradlinige Bewegungen beschränken, dann reduzieren wir auf wundersame Weise alle möglichen Freiheitsgrade in diesem System. Es gibt nun genau zwei Möglichkeiten, wie sich das Hobeleisen relativ zum Holz bewegen kann.

a) Die Bewegungsrichtung des Hobeleisens ist genau senkrecht zur Schneidenkante. Die einzige Variable, die man in dieser Situation
letzlich noch sinnvoll verändern kann, ist der Spanwinkel.
Siehe http://woodworking.de/cgi-bin/forum/webbbs_config.pl/md/read/id/56828/sbj/hobeleisen/

Das ist definitiv kein ziehender Schnitt, da dürften sich alle einig sein.

b) In jeder anderen (sinnvollen) Bewegungsrichtung ist das Hobeleisen immer schräg gestellt. Eine qualitativ andere Möglichkeit gibt es nicht.
Damit muss das also der gesuchte "ziehende Schnitt" sein, denn es gibt ja keine dritte Möglichkeit, das Hobeleisen relativ zu seiner Bewegung zu orientieren.
Was passiert denn genau, wenn sich das Hobeleisen schräg stellt?
Es sind zwei Effekte, die dabei auftreten:

1) Der effektive Spanwinkel wird vergrößert, und zwar umso stärker, je schräger man das Hobeleisen relativ zu seiner Bewegung hält.
Siehe (ab ca. 3:10) https://www.youtube.com/watch?v=TDKiKfNjgkQ
Das erleichtert also schonmal das Hobeln, keine Frage.
Trotz effektiver Vergrößerung des Spanwinkels bleibt die Schneide dabei stabil, ein angenehmer Nebeneffekt.

2) Bei der Bewegung des Hobeleisens kann man zwei Bewegungsanteile unterscheiden, Stichwort "Vektoranalyse". Einen Teil der Bewegung kennen wir schon, das ist der Anteil der Bewegung, der senkrecht zur Schneidenkante verläuft. Aber es gibt nun immer auch eine zweite Komponente, die eben parallel zur Schneidenkante verläuft. Das ist diese oben erwähnte "schneidende" (oder mikroskopisch sägende) Bewegung. Das ist genau die Bewegung, die jeder vom Schnitzen kennt und die den Unterschied zwischen dem Schneiden an sich und dem Drücken eines Schnitzmessers ins Holz ausmacht.

Was sagt uns das?
Nun, immer dann, wenn sich die Schneidenkante schräg zu ihrer Bewegungsrichtung befindet, haben wir den "ziehenden" Schnitt, automatisch. Mal mehr, mal weniger, aber qualitativ gibt es da keine Unterschiede.

Quantitativ kann man natürlich sehr viel mehr Situationen unterscheiden, je nachdem mit welchem Winkel man das Hobeleisen führt.

Bei der Stoßlade gelten diese Überlegungen natürlich uneingeschränkt. Es gibt eine rein geradlinige Bewegung. Insbesondere bewegt sich die Schneide des Hobels in einer Ebene. Es gibt auch hier nur zwei Möglichkeiten. Rein stossend ohne Verdrehung der Schneide, oder mit Verdrehung und dann automatisch dem "ziehenden Schnitt". Es hängt nun nur davon ab, wie stark man das Hobeleisen gegen die Bewegungsrichtung verdreht.

Gruß

Carsten


Rafael
Beiträge: 839
Registriert: Do 6. Jul 2017, 18:43

Re: Der "ziehende Schnitt" - eine geometrische Ana

Beitrag von Rafael »


Hallo

Die Erklärung ist gut und anschaulich. Einen kleinen Fehler habe ich jedoch entdeckt.
Der effektive Spanwinkel wird vergrößert, und zwar umso stärker, je schräger man das Hobeleisen relativ zu seiner Bewegung hält.
Siehe (ab ca. 3:10) https://www.youtube.com/watch?v=TDKiKfNjgkQ
Das erleichtert also schonmal das Hobeln, keine Frage.

Da müßte es doch heißen, dass sich der Spanwinkel verkleinert, nicht vergrößert.

Rafael

Rainer Zinserling
Beiträge: 189
Registriert: Sa 28. Jul 2012, 21:17

Re: Der "ziehende Schnitt" - eine geometrische Ana

Beitrag von Rainer Zinserling »


Das sehe ich anders, ist kein Fehler. Das mit dem flacheren wirksamen Winkel beim ziehenden Schnitt liest man immer wieder.

Oft hilft bei Betrachtungen ein Extrembeispiel: nehmen wir einen Winkel von der Seite betrachtet von 45 Grad, jetzt drehen wir den Winkel von uns weg (oder zu uns hin, ist egal). Kurz vor dem "Wegdrehwinkel" von 90 Grad sieht man den Winkel fast von vorn, sehr steil. Die Oberkante des Winkels nähert sich beim Drehen immer mehr dem senkrecht nach oben verlängertem Punkt seiner Unterkante. Bei 90 Grad ""Wegdrehwinkel" sieht man den 45 Grad Winkel jetzt mit 90 Grad.

Deshalb ist es für mich schon lange ein theoretisches Rätsel, warum ein schräg geführter Hobel oder ein schräg stehendes Messer besser schneidet - was wir praktisch aber alle wissen. . Ich hatte so für mich gedacht, bei Schrägstellung SÄGT das nie mikroskopisch absolut schartenfreie mehr. Und - war es in diesem Thema oder dem parallelen - hat jemand diese Sägefunktion angesprochen. Seitdem sehe ich das als Hauptursache für den
besseren ziehenden Schnitt.

Jeder Mensch weiß doch intuitiv und aus Erfahrung, dass ein bewegtes (Haushalts-)Meseer besser schneidet als ein "reingedrücktes" - wohl weil es SÄGT.
Rainer

Friedrich Kollenrott
Beiträge: 3188
Registriert: Fr 19. Mär 2021, 17:09

Re: Der "ziehende Schnitt" - eine geometrische Ana

Beitrag von Friedrich Kollenrott »


Hallo Rafael,

der Spanwinkel wird in der Zerspanungstechnik auf die Senkrechte zur Schnittbewegung bezogen, s. z.B.

http://mechanic.nerosch.ch/werkzeugschneide.html

Ein Schneidkeil mit senkrecht stehender Spanfläche hätte also den Spanwinkel Null. Unsere Hobel haben positive Spanwinkel (z.B. 45°). wenn die Spanfläche flacher steht ist also der Spanwinkel tatsächlich größer.

Die Holzwerker benutzen gern den Schnittwinkel (= alpha + beta), der wird mit flacher angeordenter Spanfläche (oder auch bei ziehendem Schnitt) tatsächlich kleiner.

Ist also nur eine Frage der Definition (die mit den verwendeten Begriffen festliegt). Recht habt Ihr beide ;-)

Grüße, Friedrich


Rafael
Beiträge: 839
Registriert: Do 6. Jul 2017, 18:43

Re: Der "ziehende Schnitt" - eine geometrische Ana

Beitrag von Rafael »


Die Holzwerker benutzen gern den Schnittwinkel (= alpha + beta), der wird mit flacher angeordenter Spanfläche (oder auch bei ziehendem Schnitt) tatsächlich kleiner.

So habe ich das auch gedacht.
Wieder mal ein Opfer von zu vielen Begrifflichkeiten im Kopf.

Gruß

Andreas Ranogajec
Beiträge: 582
Registriert: Do 16. Sep 2021, 02:04

Re: Der "ziehende Schnitt" - eine geometrische Ana

Beitrag von Andreas Ranogajec »

[In Antwort auf #152916]
Hallo zusammen,
ich hab mitgelesen und bin mind. 2x auf den Begriff "Sägen" beim ziehenden Schnitt gestoßen, was m.M. nach nicht korrekt ist.
Das Sägen mit einer Säge ist ein Zerspanen einer schmalen Schnittfuge mit kleinen "Hobelzähnen". Der Keilförmige Sägezahn
reißt die Holzfaser mit der Hauptschneide auf, während die Kanten der Zahnbrust die Faser abtrennen. Vereinfacht gesagt ist
Sägen also auch ein Hobelvorgang nicht umgekehrt,...Bitte jetzt nicht steinigen :-)...
Ich sehe hier keinen Zusammenhang, um den ziehenden Schnitt zu erklären.
Grüße Andreas


Rainer Zinserling
Beiträge: 189
Registriert: Sa 28. Jul 2012, 21:17

Re: Der "ziehende Schnitt" - eine geometrische Ana

Beitrag von Rainer Zinserling »


"...während die Kanten der Zahnbrust die Faser abtrennen." Wer sagt denn, dass dieses Abtrennen nicht auch ein Sägen ist, selbstverständlich (wieder) nur im mikroskopisch kleiner Dimension ... vielleicht auch nur ein Zerreißen der Fasern in mikroskopisch kleiner Dimension...

Womit aber auch ich nicht sagen will, dass Hobeln NICHT zumindest zum Teil Spanabheben ist. Und - da bin ich gleicher Meinung: zumindest bei Längsschnitt-Sägen ist auch Spanabheben dabei.

In jedem Hobeln steckt wohl ein Stück Sägen - und umgekehrt. Spannend, aber irgendwie auch lustig, dass wir offensichtlich nichts besseres zu tun haben, als das hier ...

Rainer



Carsten Griewatsch
Beiträge: 54
Registriert: So 8. Mär 2015, 21:00

Letzlich ist alles nur Keil oder Säge!

Beitrag von Carsten Griewatsch »


Moin,

es gibt letzlich überhaupt keine idealen Schneiden, d.h. eigentlich sind alle realen Schneiden mikrospisch gesehen immer irgendwie zackig, wobei die Schneide dabei durchaus sehr schmal sein kann. Aber die realen
Schneidenkanten sind "weit" davon entfernt, eine perfekte gerade Linie zu sein, die als ideale eindimensionale Schnittlinie zwischen den beiden Ebenen der Spiegelfläche und der Fase gebildet wird.

Das Problem besteht halt darin, daß man eine gute Schneidkante nicht so ohne weiteres abbilden bzw. sehen kann. Deswegen neigt man dazu, sich eine eigene Vorstellung davon zu bilden, und die kann durchaus
unrealistisch ideal sein.

Ich empfehle daher jeden, der mit Werkzeugen zu tun hat, an die man selber eine Schneide anbringen muss, ein paar Minuten Zeit mitzubringen und dann die Webseite https://scienceofsharp.com/home/ zu besuchen. Dann einfach mal alle Artikel der Reihe nach anschauen und die Bilder wirken lassen. Und ich meine wirklich ausnahmslos alle Artikel. Das eine oder andere Aha-Erlebnis hilft enorm, die eigenen Vorstellungen geradezurücken. Daß der Autor Todd Simpson eigentlich aus dem Umfeld der Freunde der Naßrasierer zu kommen scheint, spielt für die Betrachtung der Mechanismen beim Erzeugen einer guten Schneidkante ganz sicher keine große Rolle.

Jede Schneide, die wir in einer Werkstatt selber angefertigt haben, ist in Wirklichkeit eine extrem feine Säge mit einem spitz nach unten zulaufenden Sägeblatt;-) Diese Schneiden setzen wir manchmal wie Keile ein und manchmal wie Messer. Die sägenden Wirkung der nichtperfekten Schneide kann man dabei sicherlich nicht einfach ignorieren. Aber ohne Zweifel würde auch eine perfekte Schneide eine extrem gute schneidende Wirkung haben, ganz ohne zusätzlichen "sägenden" Anteil. Die mikroskopischen Mechanismen wären aber nicht mehr dieselben. Der Vorgang des Schneidens mit realen Schneiden ist halt mikroskopisch durchaus ein komplexer Vorgang.

Ich habe mit dem Ausdruck "mikroskopisch sicherlich auch irgendwie sägend" also lediglich auf die mikroskopische Eigenschaft von realen Schneidkante hinweisen wollen. Und mit dem "ziehenden Schnitt" hat das letzlich durchaus etwas zu tun. Denn stellen wir uns mal einfach eine reale Schneide vor, mikroskopisch hier und da gezackt. Wenn man damit rein stossend hobelt (also ganz ohne Verdrehung des Hobeleisens), werden die Zacken sicherlich in keiner Weise hilfreich sein. Im Gegenteil könnte es sogar sein, daß einzelne Holzfasern dort blockieren und das Hobelerlebnis getrübt wird. Wobei es hier natürlich auch auf die Größenverhältnisse der Zacken im Vergleich zu den Holzfasern ankommt, wenn man es genau nehmen will.
Wenn man aber im Gegensatz dazu mit einer deutlichen Verdrehung und damit einem ausgeprägten ziehenden Schnitt hobelt, wird es sicherlich so sein, daß einzelne mikroskopisch kleine (und damit definitiv unsichtbaren) Zacken mit einer sägenden Wirkung eher helfen als schaden. Das wird sicherlich mit ein Grund sein, warum man mit einer sich langsam abstumpfenden Klinge und einem ziehenden Schnitt noch dort Erfolge verbuchen kann, wo das Stossen der Klinge bereits deutlich schwieriger geworden ist.

Und dann kommt noch der kleinere Schnittwinkel dazu, ist halt ein gutes Gesamtpaket der "ziehende Schnitt"!
Der Bewegungsanteil senkrecht zur Schneidenkante wirkt wie ein Keil und drückt dabei den Hobelspan nach vorne.
Der Bewegungsanteil entlang der Schneidenkante wirkt wie ein Messer und hilft die Holzfasern am Beginn des Spaltes zum Hobelspan zu durchtrennen, eine mikroskopische sägende Wirkung nicht ausgeschlossen.

Damit versteht man natürlich auch sofort, warum der "ziehende Schnitt" in einigen Fällen nicht unbedingt nötig ist (z.B. mit der Faser hobeln) und in anderen eine deutliche Verbesserung mit sich bringt (Schnitt senkrecht zu Fasern, z.B. Hirnholz).

Gruß

Carsten

Pedder
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Re: Der "ziehende Schnitt" - eine geometrische Ana

Beitrag von Pedder »

[In Antwort auf #152913]
Trotz effektiver Vergrößerung des Spanwinkels bleibt die Schneide dabei stabil, ein angenehmer Nebeneffekt.


Hallo Carsten,

da sich alle Winkel proportional verändern, der Keilwinkel also kleiner wird, wird sich das Eisen auch verhalten,
wie eines mit kleinerem Keilwinkel. Es wird also leichter bzw schneller stumpf werden, als wenn es gerade geführt würde.

Liebe Grüße
Pedder

Torger Fink aka ToFi
Beiträge: 89
Registriert: Mi 29. Mai 2019, 20:08

Re: Der "ziehende Schnitt" - eine geometrische Ana

Beitrag von Torger Fink aka ToFi »


Hallo Pedder
da bin ich anderer Ansicht: Der Keilwinkel ist nur in der Wirkung dünner, die Materialmenge an der Schneide ist ja gleich geblieben, im gegensatz zu einem dünner geschliffenen Eisen
Evetuell ist die Belastung sogar geringer (und die Standzeit damit höher) da ja die Kraft auf die Schneide sinkt. Zumindestens ist ja die Vorschubkraft beim Hobeln geringer. Ich weiß allerdings nicht, ob die Abnahme der Kraft nicht (zum Teil oder ganz) durch die schmalere (wirksame) Eisenbreite hervorgerufen wird.
Wäre mal ein interessantes Feld für Untersuchungen: bei verschiedenen Schräghaltewinkeln die Kräfte messen und in Relation zur Schneidenbreite (in Vorschubrichtung gemessen) setzen.
Gruß ToFi

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